„Grandezza mit Goldflitter“

Andreas Conrad

TAGESSPIEGEL – 11.09.2018 –

Ausstellung über die Ku’damm Bühnen – Die Fotografin Anna Lehmann-Brauns widmet den beiden Theatern in der Kommunalen Galerie Berlin eine Hommage.

Der Beifall ist verrauscht, er war lang und anhaltend, ein rhythmisches Klatschen, und selbstverständlich erfolgte er im Stehen. Ein Regen aus Goldflitter war zuletzt herniedergegangen, glitzernder Abschluss des langen Lebens eines legendären Theaterbaus. Aber nun ist es vorbei, die Schauspieler, die Zuschauer sind gegangen, vielleicht schlendern einige gerade noch durchs Foyer, nippen an einem letzten Glas der hier traditionellen Himbeerbowle, und nur die Fotografin, so scheint es, befindet sich noch im Bühnenraum, allein mit ihrer Kamera, vor sich auf dem Boden den Goldflitter, dahinter die leeren Sitzreihen, die in magischem Rot schimmernden Logen, darüber das riesige Oval des Kronleuchters.

„Letzter Vorhang“ hat die Fotografin Anna Lehmann-Brauns die am 27. Mai, nach der allerletzten Vorstellung in den alten Ku’damm-Bühnen entstandene Aufnahme genannt. So heißt auch ihre Ausstellung, die am Sonntag in der Kommunalen Galerie Berlin am Wilmersdorfer Hohenzollerndamm eröffnet wurde: „Eine Hommage in fotografischen Bildern“, wie es im Untertitel heißt, gewidmet dem Theater und der Komödie am Kurfürstendamm, die, wie berichtet, Neubauplänen weichen mussten, ein Ausweichquartier im Schillertheater gefunden haben und erst nach Abschluss des Neubauprojekts wieder an den Kurfürstendamm zurückkehren.

„Hommage“ – das Wort ist gut gewählt, denn es ist nicht eine Dokumentation des Theaterlebens auf den beiden eng verbundenen Bühnen, man sieht keine Aufführungsszenen – oder allenfalls auf Fotos, die in den von Anna Lehmann-Brauns fotografierten Räumen hingen und an frühere Sternstunden der Ku’damm-Bühnen erinnerten. So an eine mit dem jungen Harald Juhnke, wie er gerade mit einer ihn anstrahlenden Kollegin im Dienste der Schauspielkunst turtelt – eine Schwarzweiß-Aufnahme an einer Wand im Foyer, darunter zur Rechten wie zur Linken ein Polsterstuhl, wie arrangiert, während die Fotografin versichert, alles so vorgefunden zu haben.

Raum für Besonderes

Als strenge Kompositionen sieht sie ihre Fotos gleichwohl, doch meint dies kein Arrangieren der im Bild gezeigten Gegenstände, vielmehr das Komponieren mit der Kamera mittels Bildausschnitt, Perspektive, Farbe, Licht – wobei sie nie ein Sortiment von Lampen mit sich herumschleppt, vielmehr stets auf das vorhandene Licht setzt. Menschen, seien es Schauspieler oder Zuschauer, kommen bei ihr nicht vor, es sei denn, wie beschrieben, auf mitfotografierten Fotos. Räume sind ohnehin das große Thema von Anna Lehmann-Brauns, besondere Räume, die, wie sie sagt, „eine eigene Magie entfalten“, was in der Ruhe, also ohne Menschen, eben besser zur Geltung komme.

Zu den beiden Bühnen hat die Fotografin eine besondere Beziehung: In ihrer Geburtsurkunde steht als Adresse Kurfürstendamm 37, das ist gleich gegenüber. Zum Schmelz das alten Kurfürstendamms gehörten für sie Theater und Komödie ebenso wie das Bristol Café, die Diskothek „Big Eden“, ja selbst die früher dort noch präsenten Prostituierten. Das alles habe zur besonderen Stimmung des alten West-Berlin gehört.

Auf die beiden Bühnen mit ihren fantastischen Räumen habe sie Lutz Gajewski, Manager von Gayle Tufts, dazu selbst Künstler und Fotospezialist, aufmerksam gemacht, erzählt sie. Und da Gayle Tufts dem Haus durch Auftritte selbst sehr verbunden war, erhielt Anna Lehmann-Brauns über diese Verbindung die Gelegenheit, das Haus in allen, der Öffentlichkeit verborgenen Winkeln mit der Kamera zu erforschen. Über sechs Monate war sie einmal pro Woche dort, fotografierte Kulissenmodelle, die nun wie große Räume wirken, drang bis in Teeküchen und Werkstätten vor, ausgestattet mit analoger Mittelformat-Kamera und Stativ, bemüht, die Grandezza des von Goldflitter geschmückten Bühnenraums ebenso darzustellen wie die dunklen Winkel etwa in der Schlosserei, mit einem in dieser Umgebung etwas überraschenden Pin-up an der Wand.

Sie ist eben mehr interessiert an der Lichtstimmung als an einer klaren Identifizierbarkeit jedes Gegenstandes: „Es muss nicht immer alles zu sehen sein.“ Und sie freut sich, wenn ihre Fotografien ab einer bestimmten Größe, wie sie sagt, „etwas Malerisches bekommen“ – eben keine fotografischen Dokumente, vielmehr „fotografische Bilder“, von denen Lehmann-Brauns vier eigens vor einer dunklen Wand arrangiert hat – für sie der Teil der Ausstellung, mit dem sie besonders zufrieden ist.

All das hat Folgen für die Titel: Die Aufnahme einer halb verdeckten, durch den Spalt zwischen zwei roten Vorhängen fotografierten Tür erhält da konsequent keinen den Ort lokalisierbaren Namen, sondern heißt schlicht „Durchsicht“. Und ein wie hin- und hergerückt wirkendes, aber wohl ebenfalls zufälliges, so vorgefundenes Arrangement aus Tisch, Stuhl und Vorhang wird nur ein schlichtes „Stuhl“ zugestanden. Als Dokumentation trubeligen Theaterlebens ist das wenig brauchbar, als ein Stillleben, von dessen nahem, mittlerweile vollzogenem Ende man weiß, besitzt es aber hohen ästhetischen Reiz.

„Letzter Vorhang“, Kommunale Galerie Berlin

Gayle Tufts, Entertainerin

Ich liebe die Arbeit von Anna Lehmann-Brauns.

Ich war so froh, als ich gehört habe, dass Anna dieses Projekt im Theater am Kurfürstendamm und Komödie am Kurfürstendamm machen würde, because she sees The Big Picture.

I had the grosse Ehre, die letzte Künstlerin zu sein, die auf der Bühne des Theater am Kurfürstendamm gespielt hat. Als ich zum ersten Mal hinter die Bühne kam, habe ich jahrzehnte Berliner Theaterluft geschnuppert und jahrelange Geschichte gespürt. I was in Entertainerin-Himmel! Berthold Brecht hatte hier Mahaghonny  uraufgeführt! It was the home of Max Reinhardt, who understood the Serious Business of gute Unterhaltung. Ich war mir sicher, dass ich nach der Vorstellung Harald Juncke auf mindestens eine Erdbeerbowle im Foyer treffen würde. Und ich schwöre, dass Brigitte Mira als Schutzengel in meiner Garderobe lebte.

Anna Lehmann-Brauns versteht das. Sie ist eine mutige Entdeckerin an diesen Orten, die nur wenigen zugänglich sind. Sie ist eine Storytellerin. Sie zeigt uns Geschichte und Abenteuer in leeren Räume. Aber sind die Räume überhaupt leer? Anna sees the ghosts and dreams and Freude und Zweifel und Leidenschaft und Liebesaffären und Schweiß und Blut und Tränen und Glitzer und Flüchtigkeit und Abschied in diesen „leeren“ Räumen. Und sie spürt das Echo von neverending Arbeit, die im Theater, in jedem Bühnenbrett, jedem Probenstuhl, und jedem Lichtkabel steckt.

Die Theaterwissenschaftlerin Miriam Dreysse hat in Anna’s Arbeit Memory and Melancholy – Errinnerung und Melancholie gesehen. Ich sehe das und auch Humor. Ein menschlicher, lebensfröhlicher Blick in die Realität: Hier war etwas, hier ist ist etwas passiert. Ich bin so dankbar, dass Anna da war – als Zeugin and Chronistin dieser Orte. Weil years from now junge Theatermacher werden sie bewundern und fragen : How could they let that go?

Besonders in diesen crazy Wochen, in unserer prekären Welt, wo Reality in Frage gestellt wird, bin ich unendlich dankbar für die Realität, Menschlichkeit und Schönheit, die Anna uns zeigt.

Und ihr könnt einen Teil davon haben: Es gibt einen Limited Edition Print für nur €150 Euro.

Ich erzähle eine kleine Geschichte zu diesem Print. Am Tag der offenen Tür strömten tausende Berlinerinnen und Berliner in beide Theater. Nach dem besonderen Bühnenprogramm zum Abschied, gab es eine Tanzparty auf der Bühne. Lutz Gajewski, der Anna die Idee vorgeschlagen hatte, in den Häusern zu fotografieren, war der DJ. Um halb eins kam Katherina Thalbach nach ihrer Vorstellung vom Raub der Sabinerinnen in der Komödie zu Lutz und fragte, ob er das Lied „Cant’ Stop Me Now“ von Queen hätte.Sie nahm sich ein Mikrophon und sagte, dass sie zum letzten Mal die Drehbühne benutzen wollte. Wer will, solle sich draufstellen . Die Techniker starteten die Drehbühne, der DJ den Song. Ca. 400 Menschen sangen und strahlten bis auf dem Höhepunkt goldene Glitzerstreifen von der Decke regneten. Auf youtube gibt es ein Video davon.
Am nächsten morgen um 10 kam Anna in den  Raum und machte dieses Foto.

 

 

 

„Wild Side West“, Haus am Kleistpark

Matthias Harder, Kurator

Viele Fotografen interessieren sich für Menschen, ihre Gesichter und Mimik, ihre Körper und Haltungen. Manche Fotografen hingegen spüren eher den menschlichen Spuren nach, gewissermaßen ihrer Abwesenheit in leeren Räumen. Beide Herangehensweisen erfordern ein großes emotionales Gespür, Anna Lehmann Brauns gelingt Letzteres immer wieder neu. In ihrer aktuellen Serie entführt sie uns in einen Mikrokosmos alternativer Lebensformen in San Franzisco, konkret in die dortigen Schwulen- und Lesbenclubs, vor allem im legendären Castro-Viertel. Wir sehen allerdings – wie auch sonst in ihrem Werk – weder die Clubbesitzer und Angestellten noch die Gäste. Wir blicken stattdessen auf leere Bühnen und Barhocker, auf ungenutzte Billardtische und Kinosessel. Alles ist menschengemacht und für Menschen gedacht, doch diese bevölkern die Szenerie immer erst etwas später. Nicht alle von uns sind sicherlich in der Lage, die Unterschiede zwischen den Clubs zu erkennen, etwa zwischen Schwulen- oder Transgenderbars, und die entsprechenden Codes richtig zu lesen. Durch die englischsprachigen Schilder können wir die Räume zumindest in den anglo-amerikanischen Sprachraum verorten. Ansonsten könnten diese Kneipen überall sein, und vielleicht auch Heteros offenstehen.

Interessant sind die liebevollen Details in den verwaisten Innenräumen, die durch die Aufnahmen erst sichtbar zu werden scheinen. Anna Lehmann Brauns interessiert sich grundsätzlich in ihrem Werk für Farben und Oberflächen, für Zeichen und deren mögliche Bedeutungen. Ihr fotografischer Ansatz kommt einer systematischen Untersuchung gleich, einer ästhetischen und gesellschaftlichen Studie. Ihre Bilder sind pur und real, und doch ist diese Art von künstlerischer Dokumentation rätselhaft genug, als dass uns die Bildinhalte und Details über einen längeren Zeitraum sonderbar fesseln.

Die Räume könnten auch Filmkulissen sein; etwas Ähnliches findet sich ja bereits in ihrem früheren Werk, etwa Räume, die als Filmstudios für soap operas genutzt werden. Es ist stets eine Art Kippeffekt in ihren Fotografien spürbar, das Dargestellte kann völlig authentisch sein oder auch etwas ganz Anderes.

Anna Lehmann Brauns zeigt uns reale Kulissen und eine kulissenhafte Realität zugleich – und lässt unseren Assoziationen und Imaginationen viel Freiraum. Es geht im Medium Film und manchmal auch in der Fotografie bekanntlich um Illusionen und Projektionen.

Das gilt auch für die neue Serie von Anna Lehmann-Brauns: Wild Side West, benannt nach eine Lesbenbar in San Franzisco – die Stadt gilt als Mekka der Homosexuellenbewegung, nicht allein durch die legendäre Figur des Harvey Milk, des ersten bekennenden schwulen Politikers in den USA; seine Lebensgeschichte wurde später auch mit Sean Penn verfilmt. Milk wurde 1978 ermordet, und die milde Bestrafung des Täters führte zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Harvey Milk lebte im Castro-Viertel, und dort war Anna Lehmann Brauns mit ihrer Familie während ihres mehrmonatigen Aufenthaltes auch zufälligerweise zunächst untergekommen. Überall hängen dort Regenbogenfahnen, es gibt HIV Beratungsstellen, zahlreiche Läden für Sexspielzeug und entsprechende Bars. Noch in den 1970er-Jahren waren sexuelle Handlungen zwischen zwei Homosexuellen in den meisten amerikanischen Staaten verboten – und sie wurden häufig auch angezeigt und verfolgt. Man konnte beispielsweise seine Wohnung verlieren, und so zogen es viele vor, etwa Sex nachts im Park zu praktizieren – oder in Gay-Clubs. In San Franzisco konzentrierten sie sich schließlich vor allem im Castro-Viertel.

Die sexuelle Orientierung funktioniert als Persönlichkeitscharakteristikum für viele wie die Religion – unabhängig und jenseits nationaler Grenzen oder beruflicher Identitäten. Schwule, Lesben und Transgender konnten sich jahrhundertelang nicht öffentlich bekennen, und können es in manchen Ländern bis heute nicht, sie wurden verfolgt und getötet. Doch in San Franzisco ist zumindest in den entsprechenden Clubs eine gewisse Sicherheit und Unbeschwertheit der LGBT-Szene möglich – und diese Toleranz und Gleichberechtigung existiert noch immer, trotz Donald Trump, der auch schon mal als keynote-speaker bei LGBT-Gegenveranstaltungen aufgetreten ist. Manche Drag-Queen-Auftritte im „Divas“, „The Stud“ oder „Oasis“ gleichen wiederum polemisch-politischen Büttenreden, die auf die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA reagieren und entsprechend opponieren.

Anna Lehmann Brauns ging häufig vormittags in die Clubs, während ein Putztrupp durch die Räume fegte. Das musste natürlich entsprechend in überzeugenden Gesprächen mit den Barbesitzern anhand von Arbeitsproben vorbereit werden.

Nur gelegentlich sehen wir auf ihren Fotografien durch Fenster eindringendes Tageslicht, meist sind die Räume allein durch künstliches Licht illuminiert. Das schwache, gelegentlich auch schummerige Licht vor Ort erforderte eine lange Belichtung mit ihrer Mittelformatkamera, und so scheinen sich auch verschiedene Zeitschichten und Geschichten auf das finale Bild zu verdichten. Sie öffnet uns hier die Türen zu einer meist verborgenen, gelegentlich etwas klaustrophobischen Welt, ihr Blick ist prinzipiell neugierig, mitunter voyeuristisch. Gleichzeitig bleibt sie so zurückhaltend wie möglich – und bewahrt, ja beschwört in ihren Bildern den unnachahmlichen Zauber eines Ortes. Es geht ihr in dieser Serie nicht um die Club-Besucher, um deren Sex oder deren mögliche Ausschweifungen, sondern auch hier um die funktionslose Schönheit eines besonderen Innenraumes und um die geheimnisvolle Ruhe einer Zwischensituation. Sie schildert nicht nur einen Zustand, sie verwandelt leere Räume in Schaukästen. Mit „Wild Side West“ erzählt sie uns wieder eine besondere Geschichte; manchmal stellt sie visuelle Fragen, und wir müssen die Antworten in unserer Rezeption geben. Denn das Interessante sind schließlich die Bilder in unseren Köpfen, die unweigerlich folgen, und das wird von der Künstlerin natürlich gleich mitgedacht.

 

„Wo man mannshohe Eistüten und sesselgroße Hamburger produziert“

Christoph Schütte

FAZ RHEIN-MAIN ZEITUNG – MITTWOCH, 04. MÄRZ 2017 –

„Lehmann-Brauns’ Kompositionen aber, all die mit der Mittelformatkamera aufgenommenen Interieurs sind Räume nicht nur der eigenen Erinnerung, sondern überdies Resonanzräume des eigenen Mediums, der Kunst als solcher und besonders der Malerei. Als veritable „Natures mortes“, als stilllebenartige, in Jahr für Jahr dichter werdende Farbnebel getauchte Kompositionen, erweisen sich die Kindheitsparadiese als immer schon verloren. Dass sie wider besseres Wissen dennoch irgendwann einmal gewesen sind, davon spricht allein die Kunst.“

 

„Hinter den Scheiben“

Elke Buhr

Anna Lehmann-Brauns Spiel mit den Oberflächen.

Die Oberfläche hat ihren schlechten Ruf seit Langem verloren. Man bleibt gern für einen Moment an der Außenseite der Dinge, denn dort können sich die Formen vom Inhalt befreien, und die Farbe unterhält sich mit sich selbst, ohne dass irgendjemand dazwischen redet. Das symbolhafte Denken wie auch die Psychologie wollen immer in die Tiefe, wollen den Zeichen Bedeutungen umknüpfen wie Wackersteine. Dabei lässt sich in der Immanenz der Fläche oft mindestens genau so viel erfahren – die nötige Sensibilität vorausgesetzt.

In Anna Lehmann-Brauns neuen Bildern ist diese Sensibilität in jedem Moment zu spüren – und sogar vervielfacht. Denn zu den Dingen – oder ihren Abbildern, das ist der Fotografie gleich – führt der Weg sogar über eine zweite Oberfläche.

Manchmal ist es schlicht ein Lichtkegel, häufiger noch eine Fensterscheibe, die sich vor die Szenerie schiebt. Diese Scheiben sind oft transparent, aber nie ganz. Sie lassen ein kleines bisschen vom Dahinter hindurch, so wie die Fotografin immer ein bisschen Realität hineinlässt in ihre hermetische Welt. Aber niemals erlauben sie den Objekten, sich ganz nach vorne zu spielen. Lieber ziehen sie den Blick auf sich selbst, auf die Wassertropfen, den Dunst oder die Eisblumen, die ihre Existenz erst sichtbar machen. So zeigen sie auch ihre Funktion als Sammelpunkt von Form und Farbe. Und geben ein klares, festes Statement ab: In dieser Fotografie geht es nicht um das Abbild, es geht um das Bild.

Die Sujets, die diese Aussage formulieren, sind dabei alles andere als prätentiös. Der regenfeuchte Blick durch ein beschlagenes Fenster in ein billiges, viel zu bunt dekoriertes Restaurant. Der Blick durch die Autoscheibe, wir kennen ihn alle, wenn die Lichter der nächtlichen Stadt plötzlich wie verzaubert erscheinen. Ein anderes Mal ist es der Vorhang eines Hotelzimmers, hinter dem die Großstadt plötzlich zu einem sorgfältig ausgeleuchteten Filmset zu werden scheint. Selbst der schwarze Asphalt ist noch fähig, das bunte Licht zu reflektieren: Ein nasses Stück Straße glänzt in allen Regenbogenfarben. Eine Neonschrift verspricht: „Open“. Dabei ist drum herum nur feste, geschlossene Oberfläche, die rätselhafte Objekte spiegelt. Selten ist mal Tag auf diesen Bildern: Und wenn, dann ein diesiger, der gar nicht so recht passen mag zu den Palmen und dem Strand, die sich unscharf hinter der Scheibe im Wind biegen. Menschen gibt es nicht– nur ihre Umwelt, die zwingend eine urbane Umwelt sein muss, denn ohne die Lichter der Großstadt könnten diese Bilder nicht entstehen.

Die Bildtitel verraten häufig, wo die Aufnahmen zu verorten sind, ob in New York oder Berlin-Mitte. Aber der konkrete Ort ist letztlich nicht entscheidend. Die nächtlichen Lichter als Chiffren des Glamours und die Neonkälte der öffentlichen Transiträume, die ihren Ursprung in den Bildwelten der amerikanischen Städte hatten, sind längst in unser aller visuelles Reservoir eingegangen.

Auch in früheren Serien der 1967 in Berlin geborenen Lehmann-Brauns waren menschenleere Orte zu sehen – Orte, die auf ihre Bewohner noch warteten, oder die vielleicht gerade von ihnen verlassen wurden. Lehmann-Brauns, die bei Joachim Brohm studierte, hat sich zwar nie von dessen Präzision, früh aber von der Beschränkung auf das Dokumentarische verabschiedet. Wenn sie Bars, Clubs, Lounges und Hoteltresen, Theater und Kinos fotografierte, dann zeigte sie zwar die realen Orte, aber gab ihnen eine surreale Qualität: Immer waren sie leer, die Vorstellung vorbei, der Rauch erkaltet, die Musik verstummt. Nur die satten, am liebsten rötlich dunklen Farben waren geblieben und die verräterischen Details, die einen Ort an seine Zeit binden. Immer sieht ihr Blick die Form im Interieur, destilliert die entscheidenden Linien und Winkel heraus, um aus einem Raum ein ästhetisches Ensemble zu machen. In einer anderen Serie begann sie, Räume nachzubauen: Settings zwischen Puppenstube und Bühne, deren Titel verrieten, dass sie eigentlich als Porträt gemeint waren. „Oma Kessler“ war eine einsame Zimmerpflanze vor gemusterter Tapete, mehr braucht ein Erinnerungsraum nicht, um Bild zu werden.

In der neuen Serie hat sie die Modelle nun wieder verlassen und ist in die Realität zurückgekehrt, um gleichzeitig einen Schritt von ihr zurückzutreten, durch die Glasscheiben, Spiegelungen und Lichtkegel, die jedem dieser Bilder eine zweite Ebene einziehen. Ihre starken Farben sind ein bisschen abgedämpft: Las Vegas spielt noch mit, aber nur im Hintergrund. Wieder hat sie analog fotografiert, wieder auf jegliche Postproduktion verzichtet: Die Lichteffekte, die Farbigkeit, all das fängt sie direkt mit der Kamera ein.

„Deaf“ ist der Titel, den Anna Lehmann-Brauns ihrem Buch gegeben hat. Er verweist auf die Melancholie und die Einsamkeit, die sich hindurchzieht. „Deaf“ trifft auch die Hermetik und Weltabgewandtheit, die sich in dem Werk ausdrückt. Andererseits ist der, dem ein Sinn fehlt, mit den anderen umso aufmerksamer. Wer nicht hört, der sieht die Details. Und findet in einem nassen Stück Asphalt den ganzen Regenbogen.

„Anna Lehmann-Brauns“

Sabine Ziegenrücker

Die Bilder von Anna Lehmann-Brauns nehmen augenblicklich gefangen. Eine kühle Distanz, ein analysierendes Abwarten sind kaum möglich. Der Blick wird in die Tiefe gesogen. Die Sinnlichkeit, die Pracht und Farbigkeit packen, bewegen, reißen mit in eine Welt voll unerfüllter Sehnsüchte. Es sind Räume des Übergangs – Bahnhöfe, Hotellobbys, Bars oder Kinos – Räume einer Zwischenwelt, die Glück verheißt. Aber es ist nur ein Glück auf Zeit und es spielt nicht im Hier und Jetzt. Auf den Räumen liegt der Schleier längst vergangener Pracht.

Melancholie breitet sich aus angesichts dieser verlassenen, menschenleeren Orte. Das Leben findet inzwischen anderswo statt. Hier gibt es nur das Warten und Vergehen. Der Mensch, der hier durch seine Abwesenheit präsent ist, dessen Träume vom Glück noch zu uns sprechen, ist ein Verlassener. Als Randfigur in einer von Geschwindigkeit, Flexibilität und Funktionalität bestimmten Welt, hinterlässt er diese Bühnen des Lebens, die von radikalem Verlust und Einsamkeit erzählen. Sie sind aus der Zeit gefallen. Moderne memento mori des Großstadtnomaden stehen vor uns.

Lehmann-Brauns nennt als Grundmotiv ihrer Arbeit, die Sehnsucht nach dem Vergehenden und den Wunsch dieses Vergehende zu konservieren. Aber sie tut dies nicht als unbeteiligter Chronist, sondern widersetzt sich kraft ihrer subjektiven Empfindung dem Geist des Dokumentarischen und der Versachlichung, der lange in der deutschen Fotografie mit Bernd und Hilla Becher und ihren Schülern vorgeherrscht hat.

Licht und Raum sind die wesentlichen Gestaltungsmittel von Lehmann-Brauns Fotografie. Dabei ist das Licht immer künstlich: Straßenlaternen, Discokugeln oder die Beleuchtung einer Filmkulisse. Und auch die Räume des neuen Werkzyklus sind keine realen Räume mehr, sondern Filmkulissen einer Telenovela. Ein wenig geisterhaft wirken sie. Ein geheimnisvolles Wispern scheint sie zu durchwehen. Es sind Orte im Schwebezustand, an denen sich Erinnerung und Fantasie entzünden.

„Erinnerung und Melancholie“

Miriam Dreysse

Anna Lehmann-Brauns‘ theatrale Räume.

Eine gedeckte Tafel wartet auf die Gäste, perfekt zentralperspektivisch angeordnet stehen die Stühle bereit, doch niemand ist da. Sessel schweben über einem glänzenden Boden, der ganze Raum scheint über der Welt zu schweben, auch hier gibt es keine Menschen, die Sessel bleiben leer. Dunkle Flure, Durchgänge, Hintertreppen scheinen darauf zu warten, dass jemand sie benutzt, scheinen ein Geheimnis bereitzuhalten, ein helles Licht in einer Tür, einen rötlichen Schein, doch niemand kommt, um nachzusehen. Leere Schwimmbäder mit einer makellos glatten Wasseroberfläche, lange ist hier niemand mehr geschwommen, nur das Seerosenmuster an der Wand spiegelt sich im Wasser. Auf der Bowlingbahn stehen alle Kegel bereit, aber keine Kugel berührt die Bahn, noch nicht einmal die Diskokugel an der Decke dreht sich. Leere Garderobenständer, das Schlüsselbord einer Hotelrezeption ohne einen einzigen Schlüssel, leere Wartesäle und Restaurants – wir blicken in menschenleere Räume, die darauf zu warten scheinen, dass jemand sie betritt und mit Leben füllt, aber keiner kommt, schon lange nicht mehr. Anna Lehmann-Brauns findet und erfindet Räume, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, die wie Inseln in einer sich immer schneller bewegenden Gesellschaft wirken, vergessen von der funktionalen Dynamik der äußeren Welt. 
Räume konstituieren sich immer auch über eine Erfahrung von Zeit, selten wird einem das so deutlich wie in den Bildern von Anna Lehmann-Brauns vor Augen geführt. Beim Betrachten fließen fiktive und reale Zeit ineinander, die Räume dehnen sich aus, ihre Leere und die Komposition von Geometrien und Symmetrien erzeugen einen Eindruck von Dauer, von Permanenz, der die Zeit anzuhalten scheint. Der Stillstand der Zeit öffnet die Bilder zugleich auf einem Empfinden der Zeitlosigkeit und der Irrealität. Bewegung kommt in den Bildern nur als ein illusionistisches Moment, als eine Spiegelung auf glänzendem Boden oder spiegelglattem Wasser vor, die eine Bewegtheit suggeriert, die nie eintritt. So scheinen auch die Uhren im Steglitz International (1999) nicht die verschiedenen Zeitzonen unseres Globus und damit das Vergehen der chronologischen Zeit anzuzeigen, sondern vielmehr ihren Stillstand, den Stillstand der Zeit und der Welt. Zeit wird in den Bildern der Fotografin nicht als lineare, sondern als schier unendliche Dehnung der Zeit im Hier und Jetzt erfahrbar.

Anna Lehmann-Brauns hat als Grundmotiv ihrer Arbeit einmal die Sehnsucht nach dem Vergehenden und den Wunsch, dieses Vergehende zu konservieren, genannt. Tatsächlich scheint sie die Räume, die sie in ihren Bildern erzeugt, zu konservieren, anzuhalten und so festzuhalten, wie sie sind. Zugleich aber hält sie sie durch die kompositorischen Mittel in einem Schwebezustand: in der Schwebe zwischen einer konkreten Örtlichkeit und irrealen, imaginären Räumen, an denen sich die subjektive Erinnerung des einzelnen Betrachters zu entzünden vermag. Artikuliert wird die Sehnsucht nach einem Festhalten von Erinnerung, das aber zwangsläufig scheitern muss. Die Orte als Anknüpfungspunkte subjektiver Erinnerung bleiben leer und bieten vielleicht gerade so dem einzelnen Betrachter die Möglichkeit, sein eigenes Begehren, seine eigenen Erinnerungen und Sehnsüchte in sie einzubringen.
Äußerst präzise und sensibel inszeniert Anna Lehmann-Brauns Räume, die das Erinnern sichtbar machen. Das Erinnern an eine Vergangenheit, die nur mehr in Form von Interieurs, von aus der Mode gekommenen Möbeln, Farben und Einrichtungsgegenständen anwesend ist. Das Erinnerte selbst aber bleibt abwesend, muss abwesend bleiben. Die konkreten Zeichen für eine bestimmte Vergangenheit, die Anna Lehmann-Brauns verwendet, also etwa die zeitliche Verortung bestimmter Gegenstände, sind dabei jedoch von weit geringerer Bedeutung als die Atmosphäre, als das spezifische Raum- und Zeitempfinden, das sie kreiert. Die Gegenstände, Versatzstücke, die Farben und Muster verweisen meist auf die 1960er- und vor allem die 1970er-Jahre. Sie sprechen dadurch auf einer Ebene die Erinnerung an diese konkrete Zeit an, die für die Generation der Fotografin die Zeit der Kindheit ist. Da dieser zeitliche Verweis aber nicht weiter spezifiziert oder kontextualisiert wird, sondern die Bilder im Gegenteil durch die Leere sowie durch Elemente wie beispielsweise die Beleuchtung irrealisiert werden, sind sie für unterschiedlichste Erinnerungen des einzelnen Betrachters offen. Die Melancholie in Anna Lehmann-Brauns’ Bildern spricht nicht so sehr von einer konkreten Vergangenheit als vielmehr von der vergehenden Zeit, die uns mit unseren Erinnerungen und unserer Vergänglichkeit allein zurück lässt.

Um die Frage der Erinnerung geht es auch in einer frühen Serie der Fotografin, Bitterblue, für die sie Modelle in Puppenhausgröße gebaut und fotografiert hat. Bei den meisten dieser Bilder wird dem Betrachter ihr Modellcharakter erst bei genauerem Hinsehen bewusst, auf den ersten Blick meint man, Fotografien realer Räume vor sich zu haben. Es sind tatsächliche Bühnen der Erinnerung, gebaut nach erinnerten Räumen aus Kindheit und Jugend der Fotografin, durch ihre Modellhaftigkeit in die Schwebe gebracht zwischen Realität und Fiktion – so wie jede Erinnerung mehr ein Erfinden denn ein Wiederfinden ist. Durch den Puppenstubencharakter scheint hier der Betrachter unmittelbar aufgerufen zu sein, in den Räumen mit den eigenen Erinnerungen zu spielen.

Der Prozess des Erinnerns stellt einen Versuch dar, das Vergangene zu vergegenwärtigen, und muss als solcher immer scheitern. Die Erinnerung geschieht aus einem Verlust heraus, die Melancholie, die den Bildern Anna Lehmann-Brauns’ innewohnt, hängt mit der Sichtbarmachung dieses Verlustes zusammen. Es ist aber auch eine Melancholie, die in der Einsamkeit der Bilder, der Verlassenheit der Räume begründet liegt. Hotel Schatzalp (2004) beispielsweise wirkt wie ein Raum, der auf das Vergehen der Zeit wartet und längst von ihr vergessen wurde. Hoch über den Bergen scheint dieser Raum mit seinem spiegelnden Boden zu schweben, die Sessel schwerelos wie von einer anderen Welt, erhaben und unendlich isoliert zugleich. Stillstand und Einsamkeit, herausgefallen aus der Zeit und jedwedem gesellschaftlich-historischem Kontext. Eine passende Kulisse für Thomas Manns Zauberberg vielleicht, eine in sich geschlossene Welt, in der die Zeit ein Vergehen auf den Tod zu ist.

Künstlerische Ausformungen der Melancholie über die Jahrhunderte haben immer wieder ein spezifisches Verhältnis von einzelnem Menschen und Raum zum Ausdruck gebracht, beziehungsweise die Verlassenheit des Menschen im Raum oder die Sinnentleertheit des den Menschen umgebenden Raums. Die Räume, die Anna Lehmann-Brauns fotografiert, sind auf die Nutzung durch den Menschen, durch viele Menschen ausgerichtet. Indem ihre eigentliche Funktion unerfüllt bleibt, fallen sie aus dem funktionalen Zusammenhang der Gesellschaft heraus und erlangen ästhetische Eigenständigkeit. Ihre Funktionslosigkeit geht aber auch mit einem Sinnverlust einher, es sind sinnentleerte Räume, Verkörperungen eines Herausfallens aus Gesellschaft, Sinn und Gemeinschaft. Der Mensch, der sich in diesen Räumen durch seine Abwesenheit manifestiert, ist eine Randfigur postmoderner Geschwindigkeit, Flexibilität und Funktionalität. Er ist ein Verlassener, vielleicht noch radikaler einsam als die isolierten Figuren auf Edward Hoppers Bildern, an die manche der Bilder Anna Lehmann-Brauns’ erinnern. Auch ihre Räume sind Orte des modernen Großstadtlebens, Bars, Restaurants, Kinos, Orte der Zerstreuung und des Vergnügens, die hier aber leer bleiben, ohne jede Spur eines Menschen, ohne jedes persönliche Zeichen, und auf diese Weise die Erfahrung der Einsamkeit inmitten der Großstadt versinnbildlichen. Gerade ein verheißungsvolles, warmes Licht auf roter Wand spricht vom verlorenen Glück und der Sehnsucht nach ihm, spricht auch von der Sprachlosigkeit des Menschen angesichts einer Realität, der mit Sprache nicht mehr beizukommen ist.

Die meisten Räume, die Anna Lehmann-Brauns fotografiert, sind halböffentliche Räume: Restaurants und Hotellobbys, Sitzungs- und Wartesäle, Bars, Diners und Kinofoyers. Es sind Orte, die das Private ausschließen und es doch auch gerade aufgrund ihrer anonymen Struktur zulassen. In diesen halböffentlichen Räumen verbindet sich üblicherweise das Persönliche mit dem Gesellschaftlichen, das subjektive mit dem kulturellen Gedächtnis, die Anonymitätserfahrung der Moderne mit dem Versprechen von Vergnügen und Geselligkeit. Es sind zugleich Räume, in denen man sich nur für eine gewisse Zeit aufhält, für eine Stunde, einen Abend, eine Nacht vielleicht, oder transitorische Orte wie Flure, Durchgänge, Treppenhäuser. Manchmal stehen Ecken, Winkel oder Wände im Vordergrund, die Ränder der Räume sowie der Wahrnehmung werden ins Zentrum gesetzt, und zugleich wird eine Ausweglosigkeit versinnbildlicht.

Öffentliche oder halböffentliche Orte haben keine Bewohner, es sind Orte, an denen sich in gewisser Weise Heimatlose aufhalten, Menschen, die an diesem Ort nicht zu Hause sind. Die Sehnsucht nach dem Vergangenen artikuliert sich hier als Sehnsucht nach einem Ort, der mich aufnimmt, nach einem Ort der Geborgenheit und derZugehörigkeit. Nach einem Ort also, an dem ich Spuren hinterlasse. Aber die Abgeschlossenheit der Orte spricht mehr von Isolation als von Geborgenheit, und die warmen Farben mancher Bilder erinnern an die Vorstellung einer Einheit des Subjekts mit sich selbst und mit der Welt, die aber eben nur als Erinnerung auftaucht, als Erinnerung eines Verlusts. Und so scheint der moderne Melancholiker durch die Bilder zu geistern, der inmitten des Getümmels der Großstadt einsam und heimatlos ist, mit analytischer Schärfe auf seine Umgebung schaut und um ihre Leere, Vergänglichkeit und Zusammenhanglosigkeit weiß.
 Es ist aber auch eine lustvolle Melancholie, die aus den Bildern spricht, die sich über die Sinnlichkeit der kräftigen Farben, des Lichts, der bestechend klaren Kompositionen und über die Stofflichkeit des Materials vermittelt. Eine Melancholie, die die Dinge und ihr Herausgefallensein aus jedweder sinnstiftenden Ordnung lustvoll genießt.

Anna Lehmann-Brauns’ Bilder wirken ausgesprochen theatral. Sie versuchen nicht, reale Orte abzubilden oder zu illustrieren, sondern sie erzeugen Räume, die den Betrachter auf einer sinnlichen Ebene ansprechen und eine raum-zeitliche Erfahrung bieten, die der Erfahrung theatraler Prozesse ähnelt. Die Räume sind inszeniert, äußerst präzise komponiert, und gerade die Beleuchtung wird als theatrales Element eingesetzt, indem sie in ihren materiellen Qualitäten und ihrer sinnlichen Wirkung hervorgehoben wird. Sie wirkt nie natürlich, sondern wie ein Scheinwerferlicht, das alles, was es berührt, irrealisiert. Sie beeinflusst oder verändert die Räume nicht nur, sondern sie gestaltet sie geradezu und wird als ein gestalterisches Element sichtbar gemacht. Und dies gilt auch für andere kompositorische Elemente wie beispielsweise Ausschnitt und Perspektive: Sie werden als gestalterische Mittel sichtbar gemacht, sodass der Abstand zur Realität immer kenntlich ist. Es sind künstliche Räume, die Anna Lehmann-Brauns schafft, sie visualisieren gleichsam ein theatrales Als-ob. Dieses Als-ob, also die Verabredung, dass das Bühnengeschehen nicht mit der Realität identisch ist, sondern nur so tut als ob, prägt den theatralen Raum und seine Wahrnehmung. Anna Lehmann-Brauns erzeugt Räume, die beispielsweise so tun, als ob sie ein Schwimmbad seien, aber sie gehen in dieser Funktion nicht auf, keiner schwimmt in ihnen, stattdessen sprechen sie auf sinnlicher Ebene von der Erfahrung der Verlassenheit oder dem Vergehen der Zeit. Sie verschleiern dabei nicht ihre Gemachtheit, sie erzeugen nicht die Illusion, mit der Realität identisch zu sein, sondern legen ihren Als-ob-Charakter offen. Gerade dieser offen gelegte Abstand zur Realität ermöglicht es dem Betrachter, sich einzuschalten, seine eigene subjektive Erinnerung und Imagination ins Spiel zu bringen. Insofern funktionieren ihre Bilder wie Bühnen der Erinnerung: Sie wecken Erinnerungen an eine Zeit, an Orte, ohne diese tatsächlich zu bestimmen, stellen Kulissen für multiple Möglichkeiten des eigenen Erinnerns dar. Das Erinnern ist immer auch ein performativer, theatraler Vorgang, insofern es eine Situation vorstellt, die selbst abwesend bleibt. Die Metapher des Raums steht üblicherweise für die Kontinuität der Erinnerung, so wie die Räume von Anna Lehmann-Brauns gerade in ihrer Statik die Vergangenheit bis ins Jetzt zu konservieren scheinen. Die Metapher der Zeit hingegen steht für den Verfall und das Vergessen, für die Unverfügbarkeit von Erinnerung, die Abwesenheit des Erinnerten. Die Leere und die Fühlbarmachung der Zeit in den Bildern Anna Lehmann-Brauns’ machen diese Abwesenheit erfahrbar, auch wenn die Räume Erinnerung zu materialisieren scheinen. Sie stellen jedoch nur ein Gerüst dar, das einen Erinnerungsprozess in Gang setzt, die momenthafte Illusion eines Gefühls, einer Atmosphäre erzeugt, die uns sogleich wieder entgleitet und uns mit der vergehenden Zeit allein zurück lässt.

Die Räume spielen mit der Wahrnehmung des Betrachters. Ein theatraler Raum ist gekennzeichnet durch die Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern in einer gemeinsamen Raumzeit, er wird strukturiert sowohl durch die Produktion, also die Aktionen, Bewegungen der Darstellenden und anderer Theatermittel, als auch durch die Rezeption und die Wahrnehmung der Zuschauenden. Fotografien können mithin nicht ohne Weiteres mit theatralen Räumen gleichgesetzt werden, da die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption hier nicht gegeben ist. Dennoch haben die Räume von Anna Lehmann-Brauns auch hinsichtlich der durch sie angebotenen Wahrnehmungsdisposition theatrale Qualitäten, denn sie rufen gerade durch ihre Leere das Subjektiv-Imaginäre beim Betrachter auf. Sie sind wie der Anfang einer Geschichte, bei der das Setting steht, aber die Handlung fehlt, denn narrativ sind ihre Bilder nicht. Wohl bieten die Räume mit ihrer jeweiligen spezifischen Ausstattung narrative Potenziale, sie scheinen auf einen konkreten Ort und eine konkrete Zeit zu verweisen. Der Verweis bleibt aber unerfüllt, jede Spezifizierung ebenso wie jede Kontextualisierung bleiben aus. Durch das Fehlen von handlungstragenden Elementen, die die durch die Ausstattung begonnenen Geschichten weiterspinnen könnten, wird die Imagination des einzelnen Betrachters angeregt. Wie leere Bühnen rufen sie nach der subjektiven Erinnerung des Wahrnehmenden, um sie mit Leben zu füllen, sie appellieren geradezu an den Zuschauer als Koproduzenten. Und in mancherlei Hinsicht treiben sie auch ihr Spiel mit der Wahrnehmung des Betrachters, legen Fährten, die im Nichts verlaufen, erzeugen Illusionen, die sich in Luft auflösen, führen Farben, Formen, Bewegungen vor Augen, die aber doch nur Spiegelungen und Täuschungen sind.

Manche der Räume haben ganz offensichtlich theatrale Qualitäten, sie wirken wie Theaterdekorationen nach dem Ende der Vorstellung, wie Kulissen, die schon lange nicht mehr gebraucht wurden, denen ihr Sinn abhanden gekommen ist, weil in ihnen nicht mehr gespielt wird. Manche Bilder spielen auch thematisch mit dem theatralen Raum: Ein in das Bild hängender Scheinwerfer und ein Sandhügel erinnern an ein tatsächliches Bühnenbild, Lichtkegel auf Wänden oder Böden an Spots im Theater, ein roter Vorhang und eine halbgeöffnete rote Tür rahmen den Blick in einen Raum dahinter. 
Türen und Vorhänge sind ein häufig wiederkehrendes Motiv. Sie versprechen einen Ausgang, einen anderen Ort, ein »Dahinter«, das jedoch nie in Erscheinung tritt. Eine Natur oder unmittelbar greifbare Realität hinter dem Vorhang, hinter der theatralen Kulisse, gibt es bei Anna Lehmann-Brauns nicht. Das Draußen bleibt unserem Blick entzogen, oder aber es tritt nur vermittelt und gerahmt in Erscheinung. Manchmal, wie beispielsweise in Bowling 2 (2006), sind die Türen kaum als solche zu erkennen, sie gehen im Interieur unter, und man fragt sich, ob sie sich überhaupt irgendwohin öffnen lassen. Der rote Vorhang von Kino International (2004) rahmt im Zusammenspiel mit den roten Fensterstreben, dem roten Leuchter, den Blick nach draußen, in die Realität der Stadt Berlin, er inszeniert die Wahrnehmung des Betrachters und verleiht der Wirklichkeit somit ein Moment des Irrealen und Theatralen. Auch in Hotel Belvedere (####) sieht der Außenraum, der durch einen Türbogen und ein Fenster wie ein Bild im Bild gerahmt ist, mindestens ebenso irreal aus wie der Innenraum im Vordergrund. Bei Universum Lounge (2004) ist es ein Goldkettenvorhang, der den städtischen Raum irrealisiert und sich wie ein Schleier vor das Auge legt, sodass der Akt des Schauens bewusst wird.

Zoo Palast (2001) zeigt einen geschlossenen Vorhang. Es ist ein rosafarbener, glänzender und geraffter Vorhang aus schwerem Stoff, der auf eine Rampe fällt, die man nur als Linie am unteren Bildrand sieht. Er erinnert an die Bühne als einen Ort des Glamours und der Illusion. Als Theatervorhang bezeichnet er die Grenze zwischen Zuschauerraum und Bühne, zwischen Realität und Illusion. Hier nun füllt er das gesamte Bild, rückt in seiner Materialität, seiner Stofflichkeit in den Vordergrund, wird selbst zum Bild, anstatt den Blick auf ein Dahinter freizugeben. Die Fotografie spielt mit dem Versprechen einer Welt hinter dem Vorhang, einer fiktiven, strahlenden, anderen Welt, und zeigt doch nur die konkrete Stofflichkeit des Vorhangs selbst. Hier wird letztlich das Verhältnis zwischen Bild und Betrachter reflektiert, zwischen dem Begehren des Blicks, den Vorhang zu lüften, Einblick zu erhalten in die Welt des Bildes, in ein Dahinter, und der Weigerung des Bildes, mehr zu sein als eine Textur und ein Versprechen. Die voyeuristische Lust wird von dem geschlossenen Vorhang abgewiesen, der Blick wird auf sich selbst zurückgeworfen. Der Vorhang markiert einen Raum zwischen Realität und Bild, zwischen Bild und Betrachter. In diesem Sinne öffnet auch dieses Bild einen theatralen Zwischenraum, einen Raum für die Wahrnehmung des Einzelnen.