„Hinter den Scheiben“

Elke Buhr

Anna Lehmann-Brauns Spiel mit den Oberflächen.

Die Oberfläche hat ihren schlechten Ruf seit Langem verloren. Man bleibt gern für einen Moment an der Außenseite der Dinge, denn dort können sich die Formen vom Inhalt befreien, und die Farbe unterhält sich mit sich selbst, ohne dass irgendjemand dazwischen redet. Das symbolhafte Denken wie auch die Psychologie wollen immer in die Tiefe, wollen den Zeichen Bedeutungen umknüpfen wie Wackersteine. Dabei lässt sich in der Immanenz der Fläche oft mindestens genau so viel erfahren – die nötige Sensibilität vorausgesetzt.

In Anna Lehmann-Brauns neuen Bildern ist diese Sensibilität in jedem Moment zu spüren – und sogar vervielfacht. Denn zu den Dingen – oder ihren Abbildern, das ist der Fotografie gleich – führt der Weg sogar über eine zweite Oberfläche.

Manchmal ist es schlicht ein Lichtkegel, häufiger noch eine Fensterscheibe, die sich vor die Szenerie schiebt. Diese Scheiben sind oft transparent, aber nie ganz. Sie lassen ein kleines bisschen vom Dahinter hindurch, so wie die Fotografin immer ein bisschen Realität hineinlässt in ihre hermetische Welt. Aber niemals erlauben sie den Objekten, sich ganz nach vorne zu spielen. Lieber ziehen sie den Blick auf sich selbst, auf die Wassertropfen, den Dunst oder die Eisblumen, die ihre Existenz erst sichtbar machen. So zeigen sie auch ihre Funktion als Sammelpunkt von Form und Farbe. Und geben ein klares, festes Statement ab: In dieser Fotografie geht es nicht um das Abbild, es geht um das Bild.

Die Sujets, die diese Aussage formulieren, sind dabei alles andere als prätentiös. Der regenfeuchte Blick durch ein beschlagenes Fenster in ein billiges, viel zu bunt dekoriertes Restaurant. Der Blick durch die Autoscheibe, wir kennen ihn alle, wenn die Lichter der nächtlichen Stadt plötzlich wie verzaubert erscheinen. Ein anderes Mal ist es der Vorhang eines Hotelzimmers, hinter dem die Großstadt plötzlich zu einem sorgfältig ausgeleuchteten Filmset zu werden scheint. Selbst der schwarze Asphalt ist noch fähig, das bunte Licht zu reflektieren: Ein nasses Stück Straße glänzt in allen Regenbogenfarben. Eine Neonschrift verspricht: „Open“. Dabei ist drum herum nur feste, geschlossene Oberfläche, die rätselhafte Objekte spiegelt. Selten ist mal Tag auf diesen Bildern: Und wenn, dann ein diesiger, der gar nicht so recht passen mag zu den Palmen und dem Strand, die sich unscharf hinter der Scheibe im Wind biegen. Menschen gibt es nicht– nur ihre Umwelt, die zwingend eine urbane Umwelt sein muss, denn ohne die Lichter der Großstadt könnten diese Bilder nicht entstehen.

Die Bildtitel verraten häufig, wo die Aufnahmen zu verorten sind, ob in New York oder Berlin-Mitte. Aber der konkrete Ort ist letztlich nicht entscheidend. Die nächtlichen Lichter als Chiffren des Glamours und die Neonkälte der öffentlichen Transiträume, die ihren Ursprung in den Bildwelten der amerikanischen Städte hatten, sind längst in unser aller visuelles Reservoir eingegangen.

Auch in früheren Serien der 1967 in Berlin geborenen Lehmann-Brauns waren menschenleere Orte zu sehen – Orte, die auf ihre Bewohner noch warteten, oder die vielleicht gerade von ihnen verlassen wurden. Lehmann-Brauns, die bei Joachim Brohm studierte, hat sich zwar nie von dessen Präzision, früh aber von der Beschränkung auf das Dokumentarische verabschiedet. Wenn sie Bars, Clubs, Lounges und Hoteltresen, Theater und Kinos fotografierte, dann zeigte sie zwar die realen Orte, aber gab ihnen eine surreale Qualität: Immer waren sie leer, die Vorstellung vorbei, der Rauch erkaltet, die Musik verstummt. Nur die satten, am liebsten rötlich dunklen Farben waren geblieben und die verräterischen Details, die einen Ort an seine Zeit binden. Immer sieht ihr Blick die Form im Interieur, destilliert die entscheidenden Linien und Winkel heraus, um aus einem Raum ein ästhetisches Ensemble zu machen. In einer anderen Serie begann sie, Räume nachzubauen: Settings zwischen Puppenstube und Bühne, deren Titel verrieten, dass sie eigentlich als Porträt gemeint waren. „Oma Kessler“ war eine einsame Zimmerpflanze vor gemusterter Tapete, mehr braucht ein Erinnerungsraum nicht, um Bild zu werden.

In der neuen Serie hat sie die Modelle nun wieder verlassen und ist in die Realität zurückgekehrt, um gleichzeitig einen Schritt von ihr zurückzutreten, durch die Glasscheiben, Spiegelungen und Lichtkegel, die jedem dieser Bilder eine zweite Ebene einziehen. Ihre starken Farben sind ein bisschen abgedämpft: Las Vegas spielt noch mit, aber nur im Hintergrund. Wieder hat sie analog fotografiert, wieder auf jegliche Postproduktion verzichtet: Die Lichteffekte, die Farbigkeit, all das fängt sie direkt mit der Kamera ein.

„Deaf“ ist der Titel, den Anna Lehmann-Brauns ihrem Buch gegeben hat. Er verweist auf die Melancholie und die Einsamkeit, die sich hindurchzieht. „Deaf“ trifft auch die Hermetik und Weltabgewandtheit, die sich in dem Werk ausdrückt. Andererseits ist der, dem ein Sinn fehlt, mit den anderen umso aufmerksamer. Wer nicht hört, der sieht die Details. Und findet in einem nassen Stück Asphalt den ganzen Regenbogen.