„Wild Side West“, Haus am Kleistpark

Matthias Harder, Kurator

Viele Fotografen interessieren sich für Menschen, ihre Gesichter und Mimik, ihre Körper und Haltungen. Manche Fotografen hingegen spüren eher den menschlichen Spuren nach, gewissermaßen ihrer Abwesenheit in leeren Räumen. Beide Herangehensweisen erfordern ein großes emotionales Gespür, Anna Lehmann Brauns gelingt Letzteres immer wieder neu. In ihrer aktuellen Serie entführt sie uns in einen Mikrokosmos alternativer Lebensformen in San Franzisco, konkret in die dortigen Schwulen- und Lesbenclubs, vor allem im legendären Castro-Viertel. Wir sehen allerdings – wie auch sonst in ihrem Werk – weder die Clubbesitzer und Angestellten noch die Gäste. Wir blicken stattdessen auf leere Bühnen und Barhocker, auf ungenutzte Billardtische und Kinosessel. Alles ist menschengemacht und für Menschen gedacht, doch diese bevölkern die Szenerie immer erst etwas später. Nicht alle von uns sind sicherlich in der Lage, die Unterschiede zwischen den Clubs zu erkennen, etwa zwischen Schwulen- oder Transgenderbars, und die entsprechenden Codes richtig zu lesen. Durch die englischsprachigen Schilder können wir die Räume zumindest in den anglo-amerikanischen Sprachraum verorten. Ansonsten könnten diese Kneipen überall sein, und vielleicht auch Heteros offenstehen.

Interessant sind die liebevollen Details in den verwaisten Innenräumen, die durch die Aufnahmen erst sichtbar zu werden scheinen. Anna Lehmann Brauns interessiert sich grundsätzlich in ihrem Werk für Farben und Oberflächen, für Zeichen und deren mögliche Bedeutungen. Ihr fotografischer Ansatz kommt einer systematischen Untersuchung gleich, einer ästhetischen und gesellschaftlichen Studie. Ihre Bilder sind pur und real, und doch ist diese Art von künstlerischer Dokumentation rätselhaft genug, als dass uns die Bildinhalte und Details über einen längeren Zeitraum sonderbar fesseln.

Die Räume könnten auch Filmkulissen sein; etwas Ähnliches findet sich ja bereits in ihrem früheren Werk, etwa Räume, die als Filmstudios für soap operas genutzt werden. Es ist stets eine Art Kippeffekt in ihren Fotografien spürbar, das Dargestellte kann völlig authentisch sein oder auch etwas ganz Anderes.

Anna Lehmann Brauns zeigt uns reale Kulissen und eine kulissenhafte Realität zugleich – und lässt unseren Assoziationen und Imaginationen viel Freiraum. Es geht im Medium Film und manchmal auch in der Fotografie bekanntlich um Illusionen und Projektionen.

Das gilt auch für die neue Serie von Anna Lehmann-Brauns: Wild Side West, benannt nach eine Lesbenbar in San Franzisco – die Stadt gilt als Mekka der Homosexuellenbewegung, nicht allein durch die legendäre Figur des Harvey Milk, des ersten bekennenden schwulen Politikers in den USA; seine Lebensgeschichte wurde später auch mit Sean Penn verfilmt. Milk wurde 1978 ermordet, und die milde Bestrafung des Täters führte zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Harvey Milk lebte im Castro-Viertel, und dort war Anna Lehmann Brauns mit ihrer Familie während ihres mehrmonatigen Aufenthaltes auch zufälligerweise zunächst untergekommen. Überall hängen dort Regenbogenfahnen, es gibt HIV Beratungsstellen, zahlreiche Läden für Sexspielzeug und entsprechende Bars. Noch in den 1970er-Jahren waren sexuelle Handlungen zwischen zwei Homosexuellen in den meisten amerikanischen Staaten verboten – und sie wurden häufig auch angezeigt und verfolgt. Man konnte beispielsweise seine Wohnung verlieren, und so zogen es viele vor, etwa Sex nachts im Park zu praktizieren – oder in Gay-Clubs. In San Franzisco konzentrierten sie sich schließlich vor allem im Castro-Viertel.

Die sexuelle Orientierung funktioniert als Persönlichkeitscharakteristikum für viele wie die Religion – unabhängig und jenseits nationaler Grenzen oder beruflicher Identitäten. Schwule, Lesben und Transgender konnten sich jahrhundertelang nicht öffentlich bekennen, und können es in manchen Ländern bis heute nicht, sie wurden verfolgt und getötet. Doch in San Franzisco ist zumindest in den entsprechenden Clubs eine gewisse Sicherheit und Unbeschwertheit der LGBT-Szene möglich – und diese Toleranz und Gleichberechtigung existiert noch immer, trotz Donald Trump, der auch schon mal als keynote-speaker bei LGBT-Gegenveranstaltungen aufgetreten ist. Manche Drag-Queen-Auftritte im „Divas“, „The Stud“ oder „Oasis“ gleichen wiederum polemisch-politischen Büttenreden, die auf die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA reagieren und entsprechend opponieren.

Anna Lehmann Brauns ging häufig vormittags in die Clubs, während ein Putztrupp durch die Räume fegte. Das musste natürlich entsprechend in überzeugenden Gesprächen mit den Barbesitzern anhand von Arbeitsproben vorbereit werden.

Nur gelegentlich sehen wir auf ihren Fotografien durch Fenster eindringendes Tageslicht, meist sind die Räume allein durch künstliches Licht illuminiert. Das schwache, gelegentlich auch schummerige Licht vor Ort erforderte eine lange Belichtung mit ihrer Mittelformatkamera, und so scheinen sich auch verschiedene Zeitschichten und Geschichten auf das finale Bild zu verdichten. Sie öffnet uns hier die Türen zu einer meist verborgenen, gelegentlich etwas klaustrophobischen Welt, ihr Blick ist prinzipiell neugierig, mitunter voyeuristisch. Gleichzeitig bleibt sie so zurückhaltend wie möglich – und bewahrt, ja beschwört in ihren Bildern den unnachahmlichen Zauber eines Ortes. Es geht ihr in dieser Serie nicht um die Club-Besucher, um deren Sex oder deren mögliche Ausschweifungen, sondern auch hier um die funktionslose Schönheit eines besonderen Innenraumes und um die geheimnisvolle Ruhe einer Zwischensituation. Sie schildert nicht nur einen Zustand, sie verwandelt leere Räume in Schaukästen. Mit „Wild Side West“ erzählt sie uns wieder eine besondere Geschichte; manchmal stellt sie visuelle Fragen, und wir müssen die Antworten in unserer Rezeption geben. Denn das Interessante sind schließlich die Bilder in unseren Köpfen, die unweigerlich folgen, und das wird von der Künstlerin natürlich gleich mitgedacht.

 

„Wo man mannshohe Eistüten und sesselgroße Hamburger produziert“

Christoph Schütte

FAZ RHEIN-MAIN ZEITUNG – MITTWOCH, 04. MÄRZ 2017 –

„Lehmann-Brauns’ Kompositionen aber, all die mit der Mittelformatkamera aufgenommenen Interieurs sind Räume nicht nur der eigenen Erinnerung, sondern überdies Resonanzräume des eigenen Mediums, der Kunst als solcher und besonders der Malerei. Als veritable „Natures mortes“, als stilllebenartige, in Jahr für Jahr dichter werdende Farbnebel getauchte Kompositionen, erweisen sich die Kindheitsparadiese als immer schon verloren. Dass sie wider besseres Wissen dennoch irgendwann einmal gewesen sind, davon spricht allein die Kunst.“

 

Letzter Vorhang

Anna Lehmann-Brauns -- Letzter Vorhang

Anna Lehmann-Brauns -- Letzter Vorhang

Anna Lehmann-Brauns -- Letzter Vorhang

Anna Lehmann-Brauns -- Letzter Vorhang

Anna Lehmann-Brauns -- Letzter Vorhang

Sun in an Empty Room

Anna Lehmann-Brauns -- Sun in an Empty Room

Anna Lehmann-Brauns -- Sun in an Empty Room

Anna Lehmann-Brauns -- Sun in an Empty Room

Anna Lehmann-Brauns -- Sun in an Empty Room

Anna Lehmann-Brauns -- Sun in an Empty Room

Filmsets

Anna Lehmann-Brauns -- Filmsets

Anna Lehmann-Brauns -- Filmsets

„Hinter den Scheiben“

Elke Buhr

Anna Lehmann-Brauns Spiel mit den Oberflächen.

Die Oberfläche hat ihren schlechten Ruf seit Langem verloren. Man bleibt gern für einen Moment an der Außenseite der Dinge, denn dort können sich die Formen vom Inhalt befreien, und die Farbe unterhält sich mit sich selbst, ohne dass irgendjemand dazwischen redet. Das symbolhafte Denken wie auch die Psychologie wollen immer in die Tiefe, wollen den Zeichen Bedeutungen umknüpfen wie Wackersteine. Dabei lässt sich in der Immanenz der Fläche oft mindestens genau so viel erfahren – die nötige Sensibilität vorausgesetzt.

In Anna Lehmann-Brauns neuen Bildern ist diese Sensibilität in jedem Moment zu spüren – und sogar vervielfacht. Denn zu den Dingen – oder ihren Abbildern, das ist der Fotografie gleich – führt der Weg sogar über eine zweite Oberfläche.

Manchmal ist es schlicht ein Lichtkegel, häufiger noch eine Fensterscheibe, die sich vor die Szenerie schiebt. Diese Scheiben sind oft transparent, aber nie ganz. Sie lassen ein kleines bisschen vom Dahinter hindurch, so wie die Fotografin immer ein bisschen Realität hineinlässt in ihre hermetische Welt. Aber niemals erlauben sie den Objekten, sich ganz nach vorne zu spielen. Lieber ziehen sie den Blick auf sich selbst, auf die Wassertropfen, den Dunst oder die Eisblumen, die ihre Existenz erst sichtbar machen. So zeigen sie auch ihre Funktion als Sammelpunkt von Form und Farbe. Und geben ein klares, festes Statement ab: In dieser Fotografie geht es nicht um das Abbild, es geht um das Bild.

Die Sujets, die diese Aussage formulieren, sind dabei alles andere als prätentiös. Der regenfeuchte Blick durch ein beschlagenes Fenster in ein billiges, viel zu bunt dekoriertes Restaurant. Der Blick durch die Autoscheibe, wir kennen ihn alle, wenn die Lichter der nächtlichen Stadt plötzlich wie verzaubert erscheinen. Ein anderes Mal ist es der Vorhang eines Hotelzimmers, hinter dem die Großstadt plötzlich zu einem sorgfältig ausgeleuchteten Filmset zu werden scheint. Selbst der schwarze Asphalt ist noch fähig, das bunte Licht zu reflektieren: Ein nasses Stück Straße glänzt in allen Regenbogenfarben. Eine Neonschrift verspricht: „Open“. Dabei ist drum herum nur feste, geschlossene Oberfläche, die rätselhafte Objekte spiegelt. Selten ist mal Tag auf diesen Bildern: Und wenn, dann ein diesiger, der gar nicht so recht passen mag zu den Palmen und dem Strand, die sich unscharf hinter der Scheibe im Wind biegen. Menschen gibt es nicht– nur ihre Umwelt, die zwingend eine urbane Umwelt sein muss, denn ohne die Lichter der Großstadt könnten diese Bilder nicht entstehen.

Die Bildtitel verraten häufig, wo die Aufnahmen zu verorten sind, ob in New York oder Berlin-Mitte. Aber der konkrete Ort ist letztlich nicht entscheidend. Die nächtlichen Lichter als Chiffren des Glamours und die Neonkälte der öffentlichen Transiträume, die ihren Ursprung in den Bildwelten der amerikanischen Städte hatten, sind längst in unser aller visuelles Reservoir eingegangen.

Auch in früheren Serien der 1967 in Berlin geborenen Lehmann-Brauns waren menschenleere Orte zu sehen – Orte, die auf ihre Bewohner noch warteten, oder die vielleicht gerade von ihnen verlassen wurden. Lehmann-Brauns, die bei Joachim Brohm studierte, hat sich zwar nie von dessen Präzision, früh aber von der Beschränkung auf das Dokumentarische verabschiedet. Wenn sie Bars, Clubs, Lounges und Hoteltresen, Theater und Kinos fotografierte, dann zeigte sie zwar die realen Orte, aber gab ihnen eine surreale Qualität: Immer waren sie leer, die Vorstellung vorbei, der Rauch erkaltet, die Musik verstummt. Nur die satten, am liebsten rötlich dunklen Farben waren geblieben und die verräterischen Details, die einen Ort an seine Zeit binden. Immer sieht ihr Blick die Form im Interieur, destilliert die entscheidenden Linien und Winkel heraus, um aus einem Raum ein ästhetisches Ensemble zu machen. In einer anderen Serie begann sie, Räume nachzubauen: Settings zwischen Puppenstube und Bühne, deren Titel verrieten, dass sie eigentlich als Porträt gemeint waren. „Oma Kessler“ war eine einsame Zimmerpflanze vor gemusterter Tapete, mehr braucht ein Erinnerungsraum nicht, um Bild zu werden.

In der neuen Serie hat sie die Modelle nun wieder verlassen und ist in die Realität zurückgekehrt, um gleichzeitig einen Schritt von ihr zurückzutreten, durch die Glasscheiben, Spiegelungen und Lichtkegel, die jedem dieser Bilder eine zweite Ebene einziehen. Ihre starken Farben sind ein bisschen abgedämpft: Las Vegas spielt noch mit, aber nur im Hintergrund. Wieder hat sie analog fotografiert, wieder auf jegliche Postproduktion verzichtet: Die Lichteffekte, die Farbigkeit, all das fängt sie direkt mit der Kamera ein.

„Deaf“ ist der Titel, den Anna Lehmann-Brauns ihrem Buch gegeben hat. Er verweist auf die Melancholie und die Einsamkeit, die sich hindurchzieht. „Deaf“ trifft auch die Hermetik und Weltabgewandtheit, die sich in dem Werk ausdrückt. Andererseits ist der, dem ein Sinn fehlt, mit den anderen umso aufmerksamer. Wer nicht hört, der sieht die Details. Und findet in einem nassen Stück Asphalt den ganzen Regenbogen.

„Anna Lehmann-Brauns“

Sabine Ziegenrücker

Die Bilder von Anna Lehmann-Brauns nehmen augenblicklich gefangen. Eine kühle Distanz, ein analysierendes Abwarten sind kaum möglich. Der Blick wird in die Tiefe gesogen. Die Sinnlichkeit, die Pracht und Farbigkeit packen, bewegen, reißen mit in eine Welt voll unerfüllter Sehnsüchte. Es sind Räume des Übergangs – Bahnhöfe, Hotellobbys, Bars oder Kinos – Räume einer Zwischenwelt, die Glück verheißt. Aber es ist nur ein Glück auf Zeit und es spielt nicht im Hier und Jetzt. Auf den Räumen liegt der Schleier längst vergangener Pracht.

Melancholie breitet sich aus angesichts dieser verlassenen, menschenleeren Orte. Das Leben findet inzwischen anderswo statt. Hier gibt es nur das Warten und Vergehen. Der Mensch, der hier durch seine Abwesenheit präsent ist, dessen Träume vom Glück noch zu uns sprechen, ist ein Verlassener. Als Randfigur in einer von Geschwindigkeit, Flexibilität und Funktionalität bestimmten Welt, hinterlässt er diese Bühnen des Lebens, die von radikalem Verlust und Einsamkeit erzählen. Sie sind aus der Zeit gefallen. Moderne memento mori des Großstadtnomaden stehen vor uns.

Lehmann-Brauns nennt als Grundmotiv ihrer Arbeit, die Sehnsucht nach dem Vergehenden und den Wunsch dieses Vergehende zu konservieren. Aber sie tut dies nicht als unbeteiligter Chronist, sondern widersetzt sich kraft ihrer subjektiven Empfindung dem Geist des Dokumentarischen und der Versachlichung, der lange in der deutschen Fotografie mit Bernd und Hilla Becher und ihren Schülern vorgeherrscht hat.

Licht und Raum sind die wesentlichen Gestaltungsmittel von Lehmann-Brauns Fotografie. Dabei ist das Licht immer künstlich: Straßenlaternen, Discokugeln oder die Beleuchtung einer Filmkulisse. Und auch die Räume des neuen Werkzyklus sind keine realen Räume mehr, sondern Filmkulissen einer Telenovela. Ein wenig geisterhaft wirken sie. Ein geheimnisvolles Wispern scheint sie zu durchwehen. Es sind Orte im Schwebezustand, an denen sich Erinnerung und Fantasie entzünden.